Der Positivismus in der Philosophie und in den Wissenschaften ist der Sache nach alt. Die Bezeichnung hat sich im 19. Jahrhundert etabliert.1 Im Kern geht es um ein Konzept der Wirklichkeit und der Erkenntnis, das vom „Positiven“, d.h. vom Gegebenen, Tatsächlichen, Sicheren, Zweifellosen ausgeht. Das Konzept richtet sich gegen Metaphysik, Spekulation und Intuitionismus. Für „positive“ Wissenschaft ist nur das zugänglich, was allgemein beobachtbar, erfahrbar und erklärbar ist. Der neuere Positivismus in den Wissenschaften ist ein Kind des Rationalismus und der Aufklärung. Er verbindet sich mit der Vorstellung, dass die den Wissenschaften zugänglichen Gegebenheiten unabhängig vom erkennenden Subjekt bestehen und ohne Beeinflussung durch dieses erkannt und erklärt werden können.2 Für die Entwicklung der Naturwissenschaften und der Technik war dieses Konzept äußerst Frucht bringend und erfolgreich. Im 19. Jahrhundert ist es von den Sozialwissenschaften adoptiert worden. Dazu hat es von Anfang an kritische Stimmen und wissenschaftstheoretische Diskussionen gegeben, zuletzt im neueren Positivismusstreit3 der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts, der durch die Kontroverse zweier Grundpositionen geprägt war: Die Vertreter des Kritischen Rationalismus4 halten positivistische Methoden auf empirisch-deduktiver Grundlage für angemessen und ausreichend, um gesellschaftliche Vorgänge wissenschaftlich zu beschreiben und zu erklären. Dem wird von der Kritischen Gesellschaftstheorie5 entgegen gehalten, dass Wissenschaft in der Gesellschaft stets auch gesellschaftlich relevantes Handeln sei und notwendigerweise strukturstabilisierend oder strukturverändernd wirke. Die Methodologie der Rechtswissenschaften hat sich mit dem neueren Positivismusstreit in den Sozialwissenschaften kaum auseinander gesetzt (umgekehrt gilt dasselbe). In beiden Bereichen sind die Diskussionen weitgehend beziehungslos nebeneinander abgelaufen. Die Sachprobleme sind aber die gleichen und sie spiegeln sich in der erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Diskussion der Rechtswissenschaften wider. Die methodologischen Modelle der Rechtswissenschaft und das Selbstverständnis der rechtswissenschaftlichen Praxis sind durchwegs durch die Ansätze des klassischen Positivismus geprägt. Rechtsnormen gelten als Teil einer objektiven Wirklichkeit, die unabhängig vom erkennenden Subjekt besteht und mit wissenschaftlichen Mitteln beschrieben werden kann. Die Wirklichkeit des Rechts wird mit dessen Geltung identifiziert. Sie besteht unabhängig davon, dass wir zu ihr in Beziehung treten. Neben dem positivistischen Verständnis finden sich in den Rechtswissenschaften und ihrer Theorie traditionell auch konstruktivistische Elemente. Sie gehen von der Einsicht aus, dass Normen Bewusstseinsinhalte von Menschen sind und keine davon unabhängige Existenz haben. Überspitzt formuliert: Es gibt keine Normen, sondern nur Normvorstellungen von Individuen, die sich in gesellschaftlichem Kommunikativverhalten manifestieren. Die Einsicht ist ebenso trivial wie folgenreich. Normvorstellungen sind keine vorgegebenen Gegebenheiten, sondern Produkte gesellschaftlicher Interaktion. Wer als Angehöriger der Rechtsgemeinschaft mit der Wirklichkeit der in dieser Gemeinschaft bestehenden Normvorstellungen in Beziehung tritt, der kann das nur im Wege von Kommunikation und Diskurs tun und beeinflusst durch eben dieses Verhalten die Wirklichkeit des Rechts. Die Beeinflussung findet in unterschiedlichem Maße und auf verschiedenen Ebenen statt. Der höchste Grad des Einflusses auf Normvorstellungen ist bei der Rechtsetzung anzutreffen. Anteil an der Befindlichkeit gesellschaftlich wirksamer opinio iuris haben auch alle anderen Arten von kommunikativem Verhalten in der Rechtsgemeinschaft, insbesondere die Praxis der Rechtsbefolgung und Rechtsanwendung, aber auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Recht, sofern sie durch Angehörige einer Rechtsgemeinschaft erfolgt, die unter dem Geltungsanspruch jener Rechtsordnung leben, mit der sie sich wissenschaftlich befassen. Geltungsfolgen hat sogar das Ignorieren von Teilen des Rechts durch die Wissenschaft (ein solches Verhalten wirkt zumeist systemstabilisierend zugunsten bestehender Anwendungspraxis). Kybernetisch gesehen ist das Recht ein gesellschaftlich erzeugtes Steuerungssystem für gesellschaftliches Verhalten. Seine Geltung ist effektivitätsabhängig: Ohne Effektivität kann der Geltungsanspruch nicht eingelöst werden. Ineffektives Recht hat keine Geltung. Die Wirklichkeit des Systems hat zwei Seiten, die beide gleiche Aufmerksamkeit verdienen: den Steuerungsanspruch (Geltungsanspruch) und die Steuerungsleistung (Wirksamkeit). Beides zusammen macht die Geltung des Systems aus, beides ist daher ins Kalkül zu ziehen. Rechtsgeltung ist die Wirklichkeit wirksamer Normvorstellungen, und: diese Wirklichkeit kann von Angehörigen der Rechtsgemeinschaft nicht „beschrieben“ werden, ohne durch dieses Verhalten beeinflusst zu werden. Gesellschaftlich wirksame Information und Kommunikation in der Rechtsgemeinschaft ist notwendigerweise von Einfluss auf Normvorstellungen von Angehörigen der Rechtsgemeinschaft. Sie nimmt affirmativ oder negatorisch Bezug auf die bestehende opinio iuris und beeinflusst diese in stabilisierender oder destabilisierender Weise. Dieser Wirkungszusammenhang kann weder durchbrochen noch aufgehoben werden. Wenn das informative und kommunikative Geschehen durch Teilnehmer außerhalb der Rechtsgemeinschaft stattfindet, dann fehlt die Rückbindung in Form der Wahrnehmung durch Angehörige dieser Gemeinschaft. Die Beobachter können zu der von ihnen beobachteten Wirklichkeit nicht in Beziehung treten. Sie verfügen über keine Möglichkeit, ihre „Beobachtungen“ zu verifizieren oder zu falsifizieren – ein Kardinalproblem der Rechtsgeschichte und gelegentlich auch eine kleine Schwierigkeit für die Rechtsvergleichung! Recht kann nicht wie physikalische Wirklichkeit erkannt und beschrieben werden. Für gesellschaftliche Steuerungskonstrukte (Normvorstellungssysteme) gilt, dass deren Wirklichkeit durch das Verhalten derer beeinflusst wird, die mit dem Konstrukt in Beziehung treten, indem sie über das System unter dessen Geltungsanspruch miteinander kommunizieren. Die Rechtswissenschaften und ihre Theorie können an dieser durch die Sozialpsychologie bestätigten und erklärten Tatsache nicht vorbeigehen. Ein positivistischer Ansatz, der den Versuch unternimmt, Rechtswissenschaft auf der Annahme der unbeeinflussten Korrespondenz von res et intellectus aufzubauen, beruht auf einer Fiktion. Er verkennt die gesellschaftlichen Wirkungen des kommunikativen Verhaltens derer, die geltendes Recht als dessen Adressaten erforschen. Sind sie Adressaten des Rechts, so beeinflussen sie durch ihr Forschungsverhalten stets auch dessen Wirklichkeit, wenn dieses Verhalten in der Rechtsgemeinschaft kommuniziert wird. Wer in der Rechtsgemeinschaft über Recht kommuniziert, der beeinflusst durch dieses Verhalten dessen Wirklichkeit. Der klassische Rechtspositivismus sucht nach Wegen einer Erkenntnis des Rechts, die frei von Einflüssen des erkennenden Subjekts und in diesem Sinne „rein“ ist. Dieses Bemühen ist redlich und anerkennenswert. Es beruht allerdings auf der Illusion der Vorgegebenheit des Rechts und damit auf einer realitätsfremden Ausgangsprämisse. Die Anwendung dieser Prämisse führt zu wirklichkeitsverkürzenden Ergebnissen. Ihren positivistischen Anspruch kann eine solcherart betriebene Rechtswissenschaft nicht einlösen, weil sie einen Teil der Wirklichkeit des Rechts – nämlich die Beeinflussung durch das In-Beziehung-Treten – ausblendet oder gar leugnet. Eine positivistische Rechtswissenschaft kann nicht auf der Annahme einer objektiven Geltungsrealität von Normen und der unbeeinflussten Korrespondenz von Sein und Bewusstsein aufgebaut werden. Das traditionelle Konzept des Rechtspositivismus, der in seinen diversen Spielarten auf eben dieser Annahme beruht, ist zum Scheitern verurteilt. Auszugehen ist vielmehr von einem Ansatz, der die Beeinflussung des Gegenstandes durch das Informations- und Kommunikationsverhalten der am Erkenntnisgeschehen Beteiligten von vornherein in Rechnung stellt und deren Konsens (opinio iuris) über Wirklichkeit als wirklichkeitskonstituierend akzeptiert. Dieses Modell kann als konsenspositivistisch bezeichnet werden.6 Es bezieht das Verhalten des beobachtenden Subjekts im kommunikativen Prozess der Rechtserkenntnis, die zugleich auch Rechtsgestaltung ist, sowohl hinsichtlich der Intentionen als auch der Wirkungen in das Wissenschaftsgeschehen ein. Es ist klar, dass auch das Kommunizieren über kommunikatives Verhalten dieses beeinflusst etc etc etc. Der Regress bleibt infinit. Kommunikativ erzeugte Wirklichkeit kann nur durch Kommunikation „erkannt“ werden. Eben dadurch wird sie aber beeinflusst und damit verändert. Aus diesem Dilemma gibt es keinen Ausweg. Der Widerspruch ist unaufhebbar. Die Folgen können aber durch metakommunikative Strategien gemildert werden. All das ist von großer praktischer Bedeutung. Ein Rechtspositivismus, der sich als bloße „Beschreibung“ des Rechts versteht, übersieht oder verschleiert die Tatsache seiner Beteiligung an jener Wirklichkeit, die er objektiv zu „beschreiben“ vorgibt. Er wird zum Diener von Machtinteressen und Herrschaftsansprüchen, weil er sich weigert, die Macht- und Herrschaftsbezüglichkeit seines „Erkenntnis“-Verhaltens zu erkennen und zu thematisieren. Das von ihm zur Machtfreihaltung herangezogene Erkenntniskonzept wird zur Falle der Macht- und Herrschaftsdienstbarkeit. Es ist Zeit, sich von der Vorstellung der Möglichkeit einer „reinen“, „wertfreien“ Rechtswissenschaft zu verabschieden. Sie beruht auf Prämissen und Konzepten, deren Unbrauchbarkeit durch die Entwicklung der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie seit langem belegt ist. Auf längere Sicht wird auch die Rechtswissenschaft daran nicht vorbeigehen können.

  • 1. 1 Auguste Comte, Rede über den Geist des Positivismus (1844).
  • 2.  Die Wirklichkeit besteht unabhängig davon, dass wir zu ihr in Beziehung treten.
  • 3.  Adorno/Dahrendorf/Pilot/Albert/Habermas/Popper, Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie (1972).
  • 4.  Hans Albert, Karl Popper, Ralf Dahrendorf.
  • 5.  Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas.
  • 6.  Funk, Abbildungs- und Steuerungsleistungen der Rechtswissenschaft. Recht und Rechtswissenschaft als Konstrukte gesellschaftlicher Kommunikation, in FS Adamovich (2002) 111.
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o. Univ.-Prof. Bernd-Christian Funk lehrt am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht der Universität Wien.