Verschleppung der STASI-Akten:

Die BRD-Geheimdienste greifen nach den Stasi-Akten. Was sie als unaufällige Verwaltungsmaßnahme bei Nacht und Nebel durchziehen wollten, trägt zur neuerlichen Formierung der Bürgerbewegung bei 1.

In den Archiven der Stasi sind Informationen von Millionen und aber Millionen Menschen gesammelt. Zielstrebig wurden von den Observateuren und Aufklärern der Stasi unter anderem Schwachstellen von Menschen erforscht, die geeignet schienen, die Betroffenen entweder unglaubwürdig, mundtot oder gefügig zu machen. Sie wurden gesammelt in nötigender oder erpresserischer Absicht, gesetzwidrig und kriminell nach altem wie nach neuem Recht! Schon deshalb haben Behörden eines Rechtsstaats - will er auch weiterhin als solcher gelten - ihre Pfoten von dem Teufelszeug zu lassen. Doch Macht kennt keine Skrupel. Wie anders sonst ist zu erklären, dass in der Nacht vom 4. zum 5. Oktober Beamte des Bundeskriminalamtes (BKA) unter Schutz von Einheiten der berühmt-berüchtigten GSG 9 in das Stasi-Archiv eindrangen und dort "Ermittlungen" anstellten?

 

Presseerklärung:2

Aus den Erfahrungen bei der Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit ergibt sich für uns, Mitglieder der Mahnwachen in verschiedenen Städten, die Notwendigkeit, der Macht der Geheimdienste entgegenzutreten. So haben wir uns dazu entschlossen, die "Initiative BürgerInnen gegen Geheimdienste" ins Leben zu rufen. Da sich Geheimdienste der öffentlich-demokratischen und parlamentarischen Kontrolle weitgehend entziehen, stellt sich die Initiative BürgerInnen gegen Geheimdienste unter anderem das Ziel, weiter für eine Offenlegung der Stasivergangenheit in Zusammenhang mit der Aufarbeitung der Geschichte der DDR für die Öffentlichkeit zu kämpfen und den Betroffenen die unrechtmäßig zusammengetragenen Daten zurückzugeben. Sie wendet sich gegen Geheimdienste und geheimdienstähnliche Behörden, die sich den Zugang zu den Stasi-Akten verschaffen, um Material für Erpressung und Beherrschung von BürgerInnen zu gewinnen.

Die Initiative BürgerInnen gegen Geheimdienste sieht, dass mit der Angliederung der DDR an die BRD die Herrschaft von anderen Geheimdiensten und eine neue Ära der Gesinnungsschnüffelei gegen BürgerInnen begonnen hat. Die Geheimdienste und geheimdienstähnlichen Behörden - insbesondere BND (Bundesnachrichtendienst); MAD (Militärischer Abschirmdienst) und Verfassungsschutz - sind ähnlich gefährlich wie das alte Ministerium für Staatssicherheit der DDR, gleiches gilt für die Geheimdienste anderer Staaten. Sie werden nur oberflächlich kontrolliert und entwickeln sich zunehmend zum Staat im Staate. Sie neigen ebenso wie die Stasi zur illegalen Ausweitung ihrer Tätigkeit und konnten dank starker Fürsprecher in Politik und Wirtschaft ihre legalen Zugriffsmöglichkeiten immer weiter ausdehnen.

Sie benutzen jetzt Reststrukturen der Stasi und aufgrund besserer technischer Möglichkeiten können sie mit wesentlich höherer Effektivität als die Stasi die Bespitzelung aller für sie interessanten Personen durchführen. Einerseits stellen sie ein Repressionsorgan gegenüber der Bevölkerung dar und schaffen dadurch erst "potentielle Staatsfeinde", andererseits tragen sie mit internationaler geheimer Schnüffelei nicht zum Klima des Vertrauens zwischen den Staaten und Völkern bei. Nicht zuletzt sind sie eine übermäßige und weitestgehend überflüssige Belastung für den Steuerzahler. Wir setzen uns ein für eine Aufarbeitung der Altlast Staatssicherheit und der damit verbundenen politischen Strukturen in der ehemaligen DDR, für die Hinterfragung anderer geheimdienstlicher Organisationen, für die Aufklärung der BürgerInnen über ihre Rechte (Datenschutz) und für die Offenlegung der Strukturen von Geheimdiensten.

 

Neuer Anfang für die Basisgruppen?

Es begann am 3. September, als Bürgerrechtler aus dem Neuen Forum, der Umwelt-Bibliothek, der Vereinigten Linken und Unabhängige in Haus 7 der Stasi-Zentrale eindrangen. Vor den Toren setzte sich eine Mahnwache fest. Ihr gehörten zwar ebenfalls Mitglieder des Neuen Forums und der Umwelt-Bibliothek an, aber zu großen Teilen sammelten sich hier Leute, die früher nichts mit Basisgruppen zu tun hatten. Dementsprechend schwieriger war es für diese Gruppe, ganz abgesehen von den Witterungsbedingungen, zu selbstbestimmtem und partnerschaftlichem Umgang zu finden. Fast durchweg gab es eine gläubige Erwartungshaltung zu den prominenten Besetzern im Staatsarchiv, insbesondere zu Sagengestalten wie Wolf Biermann, Bärbel Bohley, Reinhardt Schult und Ingrid Köppe.

Das Verhältnis zu den Besetzern war zunächst, wie gesagt, von Gläubigkeit und dann von zunehmender Enttäuschung gekennzeichnet. Da niemand zu den Besetzern vorgelassen wurde, die Besetzer aber nach einem gentlemen-agreement mit der Polizei jederzeit ein- und ausgelassen wurden, war vereinbart, dass regelmäßig Besetzer an der Vollversammlung der Mahnwache teilnehmen und so der Kontakt zwischen den beiden Gruppen gehalten wird. Diese Vereinbarung wurde von den Besetzern schnell vergessen und soweit sie doch an der Vollversammlung teilnahmen, wurde kaum etwas zur Besetzergruppe weitergegeben.

Erstmals tauchten stärkere Differenzen auf, als sich die Besetzer zum Hungerstreik entschlossen. Von der Mahnwachegruppe war demgegenüber geltend gemacht worden, dass es wichtig sei, über den Einigungstag am 3. Oktober hinweg Präsenz zu zeigen und dass ein Hungerstreik so oder so die Aktion zeitlich begrenze. Die Antwort von Seiten der Besetzer zeigte inhaltliche Unterschiede: Es ginge ihnen nicht wieder Mahnwache um den Kampf gegen die Übernahme der Akten durch Geheimdienste und um den Widerstand auch gegen diese neuen Überwachungsbehörden. Es sei nicht möglich, gegen alle Übel der Welt auf einmal zu kämpfen. Ihnen ginge es zunächst nur um Zugangsmöglichkeiten für DDR-Bürger zu ihren Akten und die adäquate unabhängige Verwaltung der Stasi-Archive.

Bewertungsunterschiede ergaben sich auch in der Beurteilung des Nachtrags zum Staatsvertrag, der aufgrund des Drucks der Besetzer und der Mahnwachen (in der gesamten DDR) zustande kam. Zwar wurde der Sonderbevollmächtigte Gauck mit seinen schwammigen Verhandlungsergebnissen bei einem Besuch bei den Besetzern scharf kritisiert. Nichtdestoweniger verkauften die Besetzer den Nachtrag zum Staatsvertrag und die Gauck-Behörde beim Abbruch ihrer Aktion als Erfolg.

Demgegenüber bildete sich in der Mahnwachegruppe zunehmend die Meinung heraus, dass der Nachtrag eine neue und nicht einmal geschickte Maskierung für den Zugang der Geheimdienste sei.

Nachdem die Besetzer das Archiv geräumt und ihre Aktion abgebrochen hatten, wurde natürlich die Position der Mahnwache schwieriger. Die Journalisten blieben aus, weil ihnen prominente Ansprechpartner fehlten, und mit dem Presseecho erlahmte auch der Andrang des ohnehin nicht sehr stark interessierten Publikums in Berlin. Immerhin gelang es der Mahnwache durch ein weiteres Konzert und eine spektakuläre Entdeckung, ihre Aufgabe mit Anstand zu Ende zu führen.

Bei einer Streife im Gelände entdeckten am 4. Oktober Mitglieder der Mahnwache im Archivgebäude 9 Licht und das Schild "Bundesarchiv/Zwischenarchiv". Nachdem sich herausgestellt hatte, dass dies tatsächlich nicht mit rechten Dingen zuging, wurde in der folgenden Nacht die Presse alarmiert. Das Bundeskriminalamt gab in der ersten Überraschung gegenüber der ADN (allgemeinen deutschen Nachrichtenagentur) zu, dass im Archivgebäude eine Durchsuchung und außerdem die Überprüfung von Bundestagsabgeordneten auf Stasimitgliedschaft stattgefunden habe. Am Abend wurde dann freilich alles wieder dementiert. Aber nachdem am nächsten Wochenende sämtliche Stasi-Agenten in Bonn aufflogen, glaubte kein Vernünftiger mehr an die Version des BKA. Der Kaiser war wieder einmal nackt und es bleibt zu hoffen, dass das sehr viele gemerkt haben.

Ein voller Erfolg war dann noch einmal die Aktion von Unbekannten. Ein gefälschtes Formular forderte die "werten Bürger" auf, ihre personengebundenen Akten am Eingang E1 der Stasi-Zentrale abzuholen und tausende Berliner kamen. Sie waren zunächst wütend über die Täuschung, unterschrieben aber dann den Forderungskatalog, den offenen Brief. Damit hat die Aktion immerhin das eine gebracht, insgesamt X Unterschriften für die Aufarbeitung durch die Betroffenen und gegen den Zugang für Geheimdienste.

Die Mahnwache musste am 11. Oktober beendet werden. Auch die letzte Spaß-Aktion konnte nicht verhindern, dass BKA und Geheimdienste ihre gierigen Finger in die illegal gesammelten Daten der Stasi steckten. Die Arbeit gegen die alten und neuen Geheimdienste musste neue Aktionsformen finden. Zum Beispiel mit der zunächst auf DDR-Gebiet beschränkten "Initiative BürgerInnen gegen Geheimdienste", die von den Mitgliedern der Mahnwachen in Dresden, Leipzig, Potsdam und Berlin am 4. Oktober gegründet wurde.

Natürlich sind X Unterschriften kein besonders sehenswertes Ergebnis, zumal gegenüber einer "freiheitlich demokratischen Grundordnung" (FdGO), die das Mittel der Volksbefragung und des Volksentscheids für kein Mittel der Demokratie hält und Verfassungsschutz und andere Geheimdienste zu rechtsstaatlichen Institutionen erklärt. Aber immerhin ist es den Besetzern und der Mahnwache gelungen, sehr deutlich die Legitimationsschwächen des neuen Systems zu zeigen. Da die Aktion sich von jeder deutlichen parteipolitischen Stellungnahme enthielt und eben nur die alle Bürger betreffende Frage der Stasi-Akten und der neuen Überwachungsbehörden thematisierte, erschienen Leute aus allen Altersstufen, allen Bevölkerungsschichten und allen politischen Spektren. Und es zeigte sich, dass wir uns in einem Punkt wirklich einig sind: Wir wollen keine alten und keine neuen Geheimdienste, mit der Überwachung der Bürger muss Schluss sein. Es zeigte sich, dass ein breites Bündnis quer über die verschiedenen Spektren sehr wohl auch heute möglich ist.

Und es wurde klar, dass gewaltlose Aktionen immer noch für die Regierenden und ihre Werkzeuge ein schwer zu behandeldes Hindernis sind. Ostentativ gewaltlose Aktionen sind nur schwer in die radikale und extremistische Ecke abzudrängen und sie stoßen auf breite Resonanz in der Bevölkerung. Dabei ist nicht zu leugnen, dass die Position Gewaltloser zwischen den verschiedenen Fronten immer schwieriger wird; zwischen mit Brandflaschen und Pistolen ausgerüsteten Nazis, bis an die Zähne bewaffneten Polizisten und schließlich nicht weniger bewaffneten Straßenkämpfern, die zudem mit dem Vorwurf des Opportunismus einherkommen.

Und dann diese westdeutsche Linke, die angesichts dieser Aktion wieder einmal ein Vexierbild ihrer rettungslosen Verranntheit und Ausweglosigkeit lieferte: Die Mahnwache fragte bei dem bekannten Rechtsanwalt Klaus Croissant an, ob er bei einer Podiumsveranstaltung über den Verfassungsschutz reden kann. Antwort: Nein, mit Totengräbern der DDR arbeitet er nicht zusammen!

  • 1. Der gesamte Text stammt aus der Ostberliner Zeitschrift TELEGRAPH (Nr. 15 vom 23 Oktober 1990) -von der Redaktion neu arrangiert
  • 2. Pressemitteilung der Initiative BürgerInnen gegen Geheimdienste vom 17.10.1990.
Fotos & Illustrationen des Artikels: 
StaSI-Arehlv/Bundesarchlv(Zwlschenarchlv)
Mahnwache und Polizei