Festung Europa

Wir leben in merkwürdigen Zeiten. Die Völker Osteuropas und der Sowjetunion erheben sich gegen ihre erstarrten Regime. Ihr wichtigster Schlachtruf heißt "Glasnost", Transparenz. Die Menschen, die jahrhundertelang unter dem zentralistisch-bürokratischen Totalitarismus gelebt haben, wissen, wovon sie sprechen. Transparenz der politischen, administrativen und rechtlichen Entscheidungsabläufe ist die unverzichtbare Voraussetzung für demokratische Kontrolle und Mitbestimmung der Bürger. Wo die Staatsgewalt ihre Entscheidungen nicht mehr begründet und auf klare Rechtsnormen abstützt, weichen Freiheit und Rechtsstaatlichkeit dem Geheimnis der Willkür. Eine solche Entwicklung bedroht heute und jetzt die parlamentarischen Demokratien Westeuropas, ohne dass sich bisher nennenswerter Widerstand dagegen regen würde.

Vierzig Jahre Konsumverdauung haben uns zu Anästhesie-Demokraten gemacht. Muss wirklich eine Katastrophe im Weltmaßstab eintreten, um uns Europäer aus dem Schlaf zu rütteln? Machen wir uns keine Illusionen. Sie ist bereits vorprogrammiert: Der Graben zwischen den Energien und Rohstoffe verschlingenden Gesellschaften des Nordens und den immer schwerer verschuldeten und verelendeten Ländern der Dritten Welt wird tiefer und tiefer. Der Hass der immer erdrückenderen Mehrheit der Armen gegen die habgierige Arroganz der schrumpfenden und alternden Minderheit der Reichen wächst.

Nur durch die Schaffung einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung, durch die aktive Förderung demokratischer Strukturen in der Dritten Welt, ohne die keine Entwicklung möglich ist, könnte der schon schwelende Konflikt mit friedlichen Mitteln entschärft werden. Doch es wird immer offensichtlicher, dass die Träger der politischen Macht in den reichen Industriegesellschaften einen anderen Weg eingeschlagen haben: Zu einem auch nur teilweisen Verzicht auf ihren privilegierten Status scheinen sie weder gewillt noch fähig zu sein. Stattdessen machen sie sich mit Eifer daran, Europa in eine Festung zu verwandeln, gewappnet - so glauben sie - gegen den zu erwartenden "Ansturm" der hungrigen Menschenmassen des Südens auf unsere Überflussgesellschaft. Auf militärischer Ebene werden neue Szenarien entwickelt, die nicht mehr auf dem Ost-West-Konflikt beruhen, sondern auf gemeinsame militärische Interventionen des Nordens zu jeder Zeit und an jedem Ort potenzieller Unruhe in der Dritten Welt abzielen. Das US-europäische Großmanöver am Golf und der Hass, den es in den Völkern der Dritten Welt gegen die Industriemächte erzeugt, lassen vorausahnen, was uns in naher Zukunft bevorsteht, wenn es uns nicht gelingt, in unseren Staaten das Steuer herumzuwerfen: Eine Art weltweiter de facto Apartheidpolitik der reichen Industrienationen gegen die Dritte Welt - Ausdruck der selben Wagenburgmentalität, die die weiße Minderheit Südafrikas prägt. Das wäre eine Strategie des kollektiven Mords und letztendlich Selbstmords. Die heutige gesamteuropäische Politik gegen die Flüchtlinge und Ausländer ist nur eine Ausdrucksform dieses umsichgreifenden Festungsdenkens: Die Einwanderer aus der Dritten Welt werden von unseren Regierungen als "fünfte Kolonne" der erwarteten "Invasion der Armen" empfunden.

Inzwischen richtet sich die Mauer der Festung Europa nicht mehr "nur" gegen die Ausländer: Unter dem populären Vorwand der Bekämpfung der Drogenkriminalität, des Terrorismus und der "irregulären" Einwanderung wird Europa auch nach innen zum überwachten Überwachungsstaat aufgerüstet. Geplant wird der Aufbau dieses europäischen "Sicherheitsstaates" weitgehend hinter verschlossenen Türen, außerhalb jeder parlamentarischen Kontrolle, in "Clubs", "Ad hoc-Kommissionen", "informellen Arbeitsgruppen" und "Expertentreffen" auf gediegenen, abgeschiedenen Landsitzen. TREVI, Berner Club, Ad hoc-Kommission Einwanderung, Pompidou-Gruppe, Schengen-Übereinkommen... Welcher Normalbürger weiß schon, was sich hinter diesen Bezeichnungen verbirgt?

Im Juni dieses Jahres haben in Dublin die Regierungen Frankreichs, der BRD und der Benelux-Staaten das "Durchführungsübereinkommen" von Schengen unterzeichnet. Mit diesem Abkommen sind die Weichen für die Zukunft Europas gestellt worden - ohne Beteiligung des Europäischen Parlaments, ohne Beteiligung der nationalen Volksvertretungen. Europa wird zur rechtsstaatlichen Dunkelkammer. Als "Versuchstiere" dienen die Flüchtlinge. Doch letztendlich geht es um die Grundrechte und -freiheiten aller Bewohner Europas. Darum gilt es heute mehr denn je: Der Kampf um das Asylrecht ist der Kampf für unser Recht. Und: Wir haben von den Sowjetbürgern etwas zu lernen: Die Bedeutung des Wortes "Glasnost".

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Nicholas Busch ist Mitglied von CEDRI und lebt zur Zeit in Schweden.
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